Online-Gschichtl Nr. 90

Karl Muzatko, der Häferlflicker von Wasenbruck - Teil 1

Johann Amsis berichtet diesmal in einem dreiteiligen Gschichtl über eine interessante Persönlichkeit, Karl Muzatko (1914-1992). Er war der „Häferlflicker von Wasenbruck“ und ein Zeuge lokaler Zeitgeschichte.

 

Aus vielen Erzählungen, auch jenen meines Cousins Karli Muzatko (Jahrgang 1941), habe ich versucht die Lebensgeschichte von Karl Muzatko sen., sein Schicksal und das seiner Familie zusammenzutragen. Da Vater und Sohn Muzatko den gleichen Vornamen tragen, werde ich vom Vater als „Karl“ und von seinem Sohn als „Karli“ erzählen. Karl Muzatko wurde am 28. März 1914 in Süßenbrunn (heute Wien 22) geboren, sein Vater Josef war aus Niederabsdorf (Bezirk Gänserndorf) zugezogen. Die Familie Muzatko stammte aber aus Skrdlowitz/Škrdlovice an der alten Landesgrenze zwischen Böhmen und Mähren.

Später hat Karl in Gramatneusiedl gelebt und dort bei einem Spengler und Rastelbinder gelernt. Ein Rastelbinder („Rasselbinder“) war damals ein Gelegenheitsarbeiter, der auf Wanderschaft (Metall-)Geschirr und anderes geflickt hat. Im Laufe seiner Jugend ist Karl dann nach Wasenbruck gekommen, um bei der Fa. Hutter und Schrantz zu arbeiten. Dort hat er die älteste, 1913 geborene Tochter von Mathias Niessl, Elisabeth, kennen und lieben gelernt – am 31. Mai 1936 wurde dann in Pischelsdorf Hochzeit gefeiert.

1937 wurde Karl Muzatko noch im Ständestaat gemustert und darauffolgend einberufen. Als 1939 der Zweite Weltkrieg begann, nahm er mit seiner Wehrmachtseinheit am Polenfeldzug teil. Seine Einheit wurde danach nach Frankreich verlegt und 1941 nach Russland beordert. Nach sieben Wochen in Russland wurde Karl bei einem Kampfeinsatz der Unterkiefer zerschossen. Wie wenn das nicht schon genug Unheil gewesen wäre, wurde am 27. November 1941 bei einem Angriff der Russen sein linkes Knie von einem Granatsplitter getroffen. Die Wunde wurde zwar an der Front versorgt, aber es hat bis zum 6. Dezember gedauert bis er, durch die Kampfhandlungen verzögert, unter unsäglichen Schmerzen auf den Hauptverbandsplatz gebracht werden konnte. Die Wunde war brandig, der Fuß war nicht mehr zu retten und musste in der Mitte des Oberschenkels abgenommen werden. Während Karl im Lazarett mit anderen schwer Verwundeten lag, kam eines Tages ein fanatischer Vorgesetzter, legte eine 38er-Pistole auf das Nachtkästchen und sagte: „Das deutsche Volk braucht keine Krüppel!“ Karl dachte aber: „Ihr könnt’s mich, ich lasse mich jetzt von euch G‘sindel erhalten“. Nichtsdestotrotz begingen die Hälfte der 10 bis 15 Verletzten im Zimmer den angeordneten Selbstmord. Sein Sohn Karli, der 1941 zur Welt kam, blätterte in den Nachkriegsjahren im Fotoalbum von Karl. Er fand ein Bild von damals, das fußamputierte Soldaten zeigte, was ihm die Frage entlockte: „Voda, warum haums ollen nua de linke Haxn ohgschossn?“ Karl antwortete: „das ist die berühmte deutsche Gründlichkeit, die Deutschen haben alle links amputierten in das linke Zimmer gelegt, alle rechts amputierten in das rechte Zimmer“. 1943 wurde Karl dann aus der Wehrmacht entlassen.

In der Fabrik in Wasenbruck wurden damals dringend Männer gebraucht, da ja die allermeisten Arbeiter eingerückt waren. So kam es, dass Karl im „Steppsaal“ von Hutter und Schrantz – mit den ganzen Frauen gemeinsam – die Zeit beim monotonen Steppen verbringen musste. Karl wollte aber eine Arbeit, bei der er sich bewegen konnte. Da kam ihm zugute, dass in seinem Wehrpass der Beruf Spengler und Rastelbinder eingetragen war. So wurde ihm eine Gewerbeberechtigung als umherziehender „Wanderspengler“ erteilt, dieses Gewerbe hat er dann bis zu seiner Pensionierung ausgeübt. Nach dem Krieg wurde auch das Finanzamt auf ihn aufmerksam, Karl hatte schon einen „eigenen Stuhl“ im Finanzamt, so oft wurde er geprüft – ob zu Recht oder Unrecht, wollte oder konnte niemand mehr sagen.

Es war im Spätsommer des Jahres 1944, als es in Wasenbruck wieder einmal Bombenalarm gab. Die Leute liefen so schnell wie möglich zu den Splittergräben jenseits des Italienergrabens. Schneller als gedacht hörte man schon das Bombengeschwader kommen. Eine junge Frau, meine Mutter mit damals 21 Jahren, sieht den kleinen Sohn Karli ihrer Schwester Elisabeth herumirren. Sie nimmt das Kind kurzerhand bei der Hand und beginnt zu laufen. Währenddessen fielen schon die ersten Bomben, wie es aussah, hatten die Alliierten die Fabrik im Visier. Mit letzter Kraft schafften es meine Mutter und Karli in den Splittergraben. Karli, damals drei Jahre alt, spielte mit seinem gelben Küberl und dem roten Schauferl im Schotter des Splittergrabens. Als er zum Himmel blickte und die Bomben sah, die aus den Flugzeugen fielen, dachte er, das seien Zuckerl und Geschenke. Das Geräusch der Bomben und das Geschrei der Leute hat ihn später davon abgehalten, je auf einen Fußballplatz zu gehen, das Jubelgeschrei erinnert ihn noch heute zu sehr an das Bombardement von damals. Mit Todesangst saßen sie 1944 dicht gedrängt im Splittergraben. Die Leute schrien vor lauter Angst, da ja die Bomben in unmittelbarer Umgebung einschlugen, manche Splitterverletzungen hinterließen blutige Spuren, aber Gott sei Dank wurde niemand getötet oder ernsthaft verletzt. Auch die Fabrik blieb bis auf einige Fensterscheiben unbeschädigt. Nach ca. ein bis eineinhalb Stunden war der Albtraum für diesen Tag wieder vorbei. Karli hat in späteren Berichten gelesen, dass zwischen Wasenbruck und Reisenberg 13 Stück 500-Kilogramm-Bomben abgeworfen wurden, die riesige Bombentrichter hinterlassen haben. Die Alliierten hatten ja die Aufgabe, die Kriegsmaschinerie in Wiener Neustadt zu bombardieren. Wenn Bomben an Bord überblieben, sollen diese dann für ähnliche Ziele, wie Fabriksbauten, ausgesucht worden sein – dazu kamen noch die Fehltreffer weitab der vorgesehenen Ziele.

Im März 1945 startete vom Plattensee aus die Russische Offensive gegen Wien. Die Nationalsozialisten hatten in Bruck ein Wehrersatzkommando errichtet, dort wurden Soldaten für den fanatischen „Endkampf“ nachgemustert. So musste auch Karl Muzatko als Invalide zur Nachmusterung und kam zum regimetreuen Amtsarzt, der ihn als wehrtauglich einstufte. Beim Hinausgehen kam Karl am Chef der Rekrutierungsstelle vorbei und klagte: „der Oasch schickt mih, mit meina an Haxn noh aun die Front““. Der Offizier war so erbost, dass er in die Ordination hineinstürmte und den Amtsarzt zurechtwies. Am Tisch lag noch Karls Wehrmachtsausweis, den man ihm 1943 bei der Entlassung aus der Wehrmacht abgenommen hatte. Während die beiden Offiziere stritten, nahm Karl heimlich den Ausweis an sich und entschwand damit. Aber wie es im Leben so ist, man sieht sich immer zweimal. Als Karl 1947 einen Führerschein für eine Beiwagenmaschine machen wollte, schickte ihn die Fahrschule zum Amtsarzt. Karl öffnet die Türe, wer steht da, immer noch derselbe Arzt, wie unter dem NS-Regime. Der hat Karl sofort erkannt, worauf der feine Amtsarzt sinngemäß sagte: „du Oasch kriagst bei miah kann Führaschein, wegn dir wah ich fost noh ins KZ kuma!“

 

Fortsetzung folgt …


Foto 1: Karl Muzatko, der Häferlflicker von Wasenbruck (Archiv Johann Amsis)

Foto 2: Karls Geburtsort Süßenbrunn (heute Wien 22) um 1900 (ÖNB AKON, AKON_AK072_285)

Foto 3: Karl Muzatko bei der Wehrmacht (Archiv Johann Amsis)

Foto 4: Sohn Karli Muzatko mit seiner Tante (!) Johanna Niessl (Archiv Johann Amsis)

Foto 5: Wasenbruck in den 1940er-Jahren, im Vordergrund Berthilde Amsis (geb. Niessl), Karl Muzatkos Schwägerin (Archiv Johann Amsis)

Foto 6: Wasenbruck im September 1940, Blick vom Haus der Familie Muzatko (Archiv Johann Amsis)