Online-Gschichtl Nr. 169

Ostern 1945 - "Drei Tage bevor die Russen kamen"

In den Ostertagen des Jahres 1945 rückte das Ende des Zweiten Weltkrieges auch in Mannersdorf näher, die Rote Armee kämpfte sich bereits in die Region vor. Heribert Schutzbier berichtet in diesem Online-Gschichtl darüber, wie sein Vater Alois die letzten drei Tage vor der Ankunft der Russen erlebte. Wir bedanken uns bei Josef Richter, der den ehem. Luftschutzkeller für Fotoaufnahmen zugänglich gemacht hat und ergänzende Hinweise gab. (Das Online-Gschichtl entstand noch vor den aktuellen Ereignissen in der Ukraine.)

 

Mein Vater Alois Schutzbier (1901-1956) war Lehrer und im Spätherbst 1944 krankheitshalber aus dem Militärdienst entlassen worden. Er erlebte deshalb die aufregenden Tage vor dem Eintreffen der Russen, also die Zeit vom 1. bis 3. April 1945, in Mannersdorf. Seine authentischen, schriftlichen Aufzeichnungen über die Geschehnisse wurden von mir etwas gekürzt und dem heutigen Sprachgebrauch angepasst. In eckigen Klammern habe ich Erklärungen und Anmerkungen hinzugefügt.

 

„1. April 1945: [Ostersonntag] - Fliegeralarm, Rauchwolken in Richtung Au, Stotzing. Nachmittag Geschützdonner vernehmbar. Es sind verschiedene Kanonen. Um 18h Räumungsbefehl für die Lager. Kaisersteinbruch wird geräumt. Kolonnen von Kg. [Kriegsgefangene] ziehen durch das Dorf. Rückzug der Etappe. 18h [auch] Räumungsbefehl für Frauen und Kinder. Es soll zu Fuß nach Reisenberg gegangen werden. Dort sollen Autobusse warten.

Wir ziehen in den Stahl-Keller [Schubertplatz 4, ehemaliger großer Weinkeller des Wiener Weinhändlers Georg Hammer, 1798 erbaut]. Heribert im Wagerl, Omama, Mutti, Tante Mizzi und ich sind schwer bepackt. Ich mache den Weg noch dreimal. Auf Koffern und Teppichen machen sich Omama und Tante Mizzi ein Lager. Mutti und ich schlafen in Korbsesseln. Unser Essen kochen wir auf einem Spirituskocher. Der Keller ist voll von Menschen und ihren Sachen. Fast jede Familie hat eine Petroleumlampe oder Kerzen.

In der Nacht gehen wir öfter hinauf und schauen von der Gartenstiege in die Umgebung. Wir sehen zahlreiche Brände in Richtung Semmering, Wiener Neustadt. In der Nacht fallen Fliegerbomben in die Ziegelofengasse vor dem Pollykreuz [auch Schnitzerkreuz genannt - ein Bombensplitter schlug dem Christuskorpus den linken Unterschenkel ab].“

 

„2. April 1945: [Ostermontag] - Heribert hat gut geschlafen, wir nicht. Zeitlich in der Früh wachten wir schon auf und Tante Mizzi und ich gingen um ¾ 4 hinunter ins Haus [Hauptstraße 17], um dort Rigo [unser Hund] zu füttern (der war im Keller eingesperrt), um Milch zu holen und Frühstück zu kaufen. Am Platz stehen Autos für die Evakuierung, die vom Nemetschek [Hauptstraße 30] aus wegfahren. Später trafen wir den Bürgermeister [Viktor Rapp]. Er sagte, dass die Geschäfte aufsperren und ihre Vorräte an die Bevölkerung abgeben müssen.

Tante Mizzi sperrt um 9h [unser Geschäft] auf. Da sie längere Zeit nicht in den Keller kommt, gehe ich ins Haus hinunter, um ihr zu helfen. Sie war aber schon fertig. Onkel Pleß kam noch und wir plauderten. Unterdessen waren Mutti und Martschitz Mizzl einkaufen gegangen. Sie besorgen aus dem Lagerhaus [damals Hauptstraße 1] pro Person 1kg Brotmehl und 1kg weißes Mehl, vom Zenk [Fleischhauer, Hauptstraße 38] 1kg Fleisch, Beuschel und Fett.

Die Bevölkerung plündert das OT-Lager [OT steht für Organisation Toth, paramilitärisch organisierte Bautruppe des NS-Regimes, die Zwangsarbeiter, Kriegsgefangene und KZ-Häftlinge einsetzte] in der Schule und auch die Kanzleien und Lehrmittelzimmer. Um ½ 10 fährt die SS durch. Die letzten reiten auf Gespannen ohne Wagen im Galopp durch das Dorf. Einer von ihnen ruft ins Geschäft herein, dass ihnen der Russe folge.

Wir ziehen den Rollladen herunter. Der bleibt uns hängen, doch ich zwinge ihn mit Stemmeisen und Hammer herunter. Wir schleppen das Mehl und einige Koffer mit Wäsche in den Keller. Mutti will gerade noch hierherkommen, als sie vom Einkaufen zurückkommt, jedoch winke ich ihr, dass sie gleich in den Keller gehen soll.

Um 10h wird Sturm geläutet. Nochmals wird die Bevölkerung zur Evakuierung aufgefordert und zwar zu Fuß nach Baden (!). SS zündet den Czernitz-Stadel [Tattendorf 43] an. Zu Mittag essen wir das Fleisch vom Sonntag. Der Russe kommt noch nicht. Er wurde wieder zurückgeworfen. Nachträglich erfahren wir, dass er bis zum Antoni [Figur an der Hofer Straße] und von Wasenbruck bis zur Weninger-Grube [war gegenüber der Donatikapelle neben dem Feldweg zum Gottschykreuz rechts] vorgedrungen war, jedoch von der SS bis Au und Reisenberg zurückgeworfen wurde.

Am Abend schauen wir wieder in die Umgebung. Die Brände haben sich vermehrt. Seit 16h brennt der Ringofen [stand hinter der heutigen Werksiedlung]. Brände in Richtung Trautmannsdorf, Flughafen, Enzersdorf, Heidfeld, Baden, Steinfeld. In der Nacht wird einige Male ein Rundblick genommen. Situation unverändert. Russische Flieger über uns.“

 

„3. April 1945: [Dienstag nach Ostern] - In der Früh gehen Tante Mizzi und ich wieder ins Haus, um den Rigo und Schurli [unser Kater] zu füttern. Ich gehe zu Scharmann [Hauptstraße 21] um die Milch. Ich muss warten. Auf der Straße kommen SS-Panzer Richtung Hof gerollt. Sie werfen Zigaretten und Zünder herunter. Im Laufe des Vormittags geht die SS zurück. Starker Beschuss von Reisenberg auf unseren Ort. Im Gemeindehaus [damals Hauptstraße 22] steht ein Panzer. Mit dem Kommandanten, einem Leutnant, spreche ich, ob er uns mitnehmen kann. Er sagt zu, weiß aber nicht, wie weit er zurückgenommen wird. Er schickt mich zum Gefechtsstand.

Auf dem Weg dorthin: SS geht zurück. Artilleriebeschuss in nächster Umgebung. Die Schule und der Scharmann-Stall bekommen Treffer. Einzelne Treffer auch in der Seegasse.

Beim Gefechtsstand, der sich vor dem Haus von Fleischhauer Sauer [Hauptstraße 59, heute Kögl] befindet, erfahre ich, dass die Panzer nur über Sommerein und Trautmannsdorf nach Margarethen fahren. Auf dem Rückweg zum Gemeindehaus ein Preller. SS Totenkopf [SS-Totenkopf-Division] geht vor. Artilleriefeuer, russische Flieger.

Im Keller beschließen wir, nicht mitzufahren. Vor dem Keller stellt die SS einen Granatwerfer auf. Im Kirchturm richtet sie einen Beobachtungsposten ein. Schweres deutsches Schießen aus Richtung Sommerein [nach Augenzeugenbericht stand eine Stellung knapp jenseits des Schweingrabens] über unser Dorf in Richtung Hof. Es gelingt nochmals den Russen zurückzuschlagen.

Am Abend: Infanterie- und Maschinengewehrfeuer Richtung Wald. Die Russen fahren mit offenen Scheinwerfern auf der Straße von Wampersdorf-Ebreichsdorf Richtung Baden. Brände in Richtung Bruck. Die Nacht ruhig, doch einzelne schwere Detonationen spürbar.“

 

 

Nach den drei Tageseinträgen enden leider die Aufzeichnungen meines Vaters. Im Hausbuch der Familie Kopf (Hauptstraße 19) ist für den 4. April 1945 folgende Eintragung vermerkt: „8h vorm. zahlreiche Russen, von Hof kommend, marschieren in Mdf. ein, Einquartierung im Haus“. Mit dem Einmarsch der Roten Armee begann nun in Mannersdorf die Besatzungszeit, gut ein Monat vor dem Zusammenbruch des NS-Regimes und dem Kriegsende.

Foto 1: Der ehem. "Obere Richterwirt" (vorm. Stahl) am Schubertplatz (Michael Schiebinger)

Foto 2: Auszug aus den Tagebuchaufzeichnungen von Alois Schutzbier (Heribert Schutzbier)

Foto 3: Eingang zum Keller, der 1945 als Zufluchtsort diente (Michael Schiebinger)

Foto 4: Treppe in den Luftschutzkeller (Michael Schiebinger)

Foto 5: Im Gewölbekeller suchte die Bevölkerung 1945 Zuflucht (Michael Schiebinger)

Foto 6: Blick von der Gartenstiege in das Umland, hier hielten Alois Schutzbier und andere 1945 Ausschau (Michael Schiebinger)