Online-Gschichtl Nr. 180

An der Grenze - Kaisersteinbruch im Jahr 1921

Vor 101 Jahren entstand das Burgenland als „jüngstes Kind von Österreich“, wie es in der Landeshymne heißt. Ava Pelnöcker berichtet diesmal über die dramatischen Ereignisse, die sich in unserer Region rund um die Übergabe Deutsch-Westungarns, dem späteren Burgenland, abspielten und beleuchtet damit ein wenig bekanntes und doch so folgenreiches Kapitel unserer lokalen Zeitgeschichte.

 

Gegen Ende des Ersten Weltkrieges entluden sich im österreichischen Kaiserreich schon lange schwelende politische, sozialökonomische und nationale Konflikte. Noch bevor am 18. November 1918 die Republik Deutsch-Österreich ausgerufen wurde, erklärte die von Kaiser/König Karl in Budapest eingesetzte Regierung am 31. Oktober 1918 den Austritt Ungarns aus der Realunion, wodurch die fast 400 Jahre bestehende Regentschaft der Habsburger in Ungarn ein Ende fand. Der Zerfall der Donaumonarchie war nicht mehr aufzuhalten, denn auch die Tschechen und Slowaken, Serben, Slowenen und Kroaten erklärten Ende Oktober 1918 ihre Unabhängigkeit vom Habsburgerreich. Als Verlierer mussten sich Österreich und Ungarn dem Diktat der siegreichen Ententemächte (u.a. Großbritannien, Frankreich, Russland) beugen und die von den jungen Staaten erhobenen Gebietsabtretungen akzeptieren, die in den Pariser Vororteverträgen festgeschrieben wurden. Die völkerrechtliche Beendigung des Ersten Weltkrieges bildete für Deutsch-Österreich der am 10. September 1919 unterfertigte Vertrag von St. Germain. Als Ausgleich für die herben Gebietsverluste (darunter vor allem Südtirol) erhielt die junge Republik das mehrheitlich deutsch- und kroatischsprachig bewohnte „Deutsch-Westungarn“ zugesprochen, wo auf rund 4.926 Quadratkilometer rund 360.000 Menschen lebten, davon 26.000 Magyaren. Nur unter Protest unterfertigte das mittlerweile neu gegründete Königreich Ungarn am 4. Juni 1920 den Vertrag von Trianon, der weitere massive Gebietsabtretungen im Norden, Osten und Süden vorsah. Ungarn verlor dadurch nahezu Dreiviertel seines ehemaligen Staatsgebietes und rund 64 Prozent seiner Bevölkerung an die Nachbar- bzw. Nachfolgestaaten.

Unter dem Motto „Nein! Nein! Niemals!“, trachtete der nach dem Sturz der kommunistischen Räteregierung amtierende Reichsverweser Miklós Horthy von Nagybánya die Besetzung West-Ungarns durch österreichische Gendarmen zu verhindern. Eine unter der Leitung Oberst Anton Lehárs – dem Bruder des bekannten Komponisten – zusammen getrommelte „Deutschwest-ungarische Freiwilligen-Armee“ sollte sich den österreichischen „Invasoren“ entgegenstellen. Doch diese Rekrutierungsversuche scheiterten vielerorts, wenngleich ein Teil der Grenzland-Bevölkerung der Angliederung an Österreich durchaus sehr kritisch gegenüberstand. So bat sogar die österreichische Gemeinde Au am Leithaberge 1919 an Ungarn angeschlossen zu werden!

Mit inoffizieller Unterstützung der Regierung Horthy machten sich nun paramilitärische Gruppen das entstandene Vakuum zu nutze. Die Motive dieser ungarischen Freischärler waren genau so unterschiedlich wie ihre Herkunft. Neben abgerüsteten Soldaten und königstreuen Offizieren der ehemaligen k. u. k. Armee schlossen sich auch einfache Landarbeiter und national-ungarisch gesinnte Studenten dieser Bewegung an. Die bunt zusammengewürfelten Haufen trachtete einerseits durch Propaganda, andererseits durch blutige Terroraktionen die Bevölkerung des Grenzlandes zum Verbleib bei Ungarn umzustimmen. Meist traten die Freischärler in Waidmannskluft und Bewaffnung auf. Viele aber besaßen nicht einmal Schuhe und waren so abgerissen gekleidet, dass sie bald nur noch als „Lumpengarde“ (ung. „rongyos garda“) bezeichnet wurden.

Einer ihrer Anführer, der ehemalige k. u. k. Flieger-Oberleutnant Iván Héjjas, schlug in Parndorf sein Hauptquartier auf. Von hier aus drangsalierten seine Männer die Einwohner von Bruck an der Leitha und Kiralyhida/Bruckneudorf durch fortdauerndes Maschinengewehrfeuer. Seit 16. Oktober 1920 hielt die „Lumpengarde“ auch Császárköbanya/Kaisersteinbruch besetzt. Im Waldgasthaus „Zur Hinterbrühl“ – dicht an der österreichisch-ungarischen Grenze gegen Sommerein – ließen sich die Freischärler vom Wirt Georg Stinauer verköstigen und schleppten, als er ihrer Forderung nach Geld nicht nachkam, Lebensmittel und Wein davon. Wenige Tage darauf wurde das Anwesen unter Gendarmerieschutz geräumt. Dabei kam es zu einem heftigen Schusswechsel mit den Banditen.

Als am Vorabend des 1. November 1921 einige auswärts beschäftigte Arbeiter von ihren Baustellen nach Kaisersteinbruch heimkehren wollten, wurden sie mit Gewehrschüssen empfangen. Héjjas Männer hielten sie wohl für eine der österreichischen Heimwehrgruppen, die in den unsicheren Zeiten nach dem Ersten Weltkrieg auf Gemeindeebene für Ordnung sorgten. Die vertriebenen Kaisersteinbrucher suchten nun Unterstützung bei ihren Bekannten und Freunden in Sommerein, wo eine „sozialdemokratische Ordnergruppe“ mit Zustimmung der Gendarmerie und des Bürgermeistes Josef Kögl die österreichisch-ungarische Grenze sicherte. Während die Gendarmen tagsüber patrouillierten, hielten die Sommereiner Männer in den Nachtstunden Wache. Das Kommando führte Gemeinderat Martin Tatzber (1893-1958), dem sich – nach Freischärler-Übergriffen auf Sommereiner Feldarbeiter – bald auch einige christdemokratisch gesinnte Bauern angeschlossen hatten. Die Männer entschlossen sich, noch in derselben Nacht anzugreifen: Um Mitternacht hatten zwanzig Sommereiner und fünfzehn Kaisersteinbrucher das besetzte Császárköbanya/Kaisersteinbruch umzingelt. Zwar gelang es, zwei Wachposten der „Lumpengarde“ zu überrumpeln, doch die restlichen Freischärler entkamen – durch Schüsse alarmiert – aus dem Jägerhaus ins angrenzende Militärlager, wo sie sich verschanzten und Verstärkung von Ivan Héjjas anforderten, der sich gerade in Neusiedl am See aufhielt.

Héjjas zögerte nicht lange und besetzte mit 250 Mann den südlichen, östlichen und nördlichen Ortsrand von Kaisersteinbruch. Nur der Weg nach Sommerein war noch offen! Die Kaisersteinbrucher Heimkehrer, die einstweilen ihren vermeintlichen „Sieg“ im Kaisersteinbrucher Gemeindegasthaus gehörig begossen hatten, gingen unbehelligt nach Hause, trafen jedoch keine Sicherungsmaßnahmen, da sie keinen Gegenangriff erwarteten!

Im Morgengrauen des 1. November 1921 nahmen nun die Freischärler Kaisersteinbruch mit Handgranaten und vier Maschinengewehren unter Beschuss. Wie durch ein Wunder gelang es den meisten Männern sich aus dem Trommelfeuer Richtung Sommerein abzusetzen. Zwei Arbeiter wurden jedoch ergriffen und von den Freischärlern ohne viel Federlesen gehenkt. Da sich ihnen nun niemand entgegenstellte, besetzten Héjjas Männer Kaisersteinbruch und durchsuchten alle Häuser nach österreichischen Soldaten, jedoch vergeblich! Héjjas ließ daraufhin das Ortsgebiet sperren und verhängte das Standrecht.

Der Gemeindediener hatte alle Einwohner auf einer Liste zu erfassen und jede Person über zwölf Jahre musste die erlassene Kundmachung eigenhändig unterschreiben. Darin forderte Ivan Héjjas alle am Angriff Beteiligten auf, sich bis 12 Uhr Mittag zu stellen, die Anführer des Angriffes bekannt zu geben, sowie alle Waffen und Munition abzuliefern. Verstöße seien mit dem Tode zu bestrafen! Als die Frist nun erfolglos verstrichen war, mussten sich alle Ortsbewohner Kaisersteinbruchs im Alter von zwölf bis siebzig Jahren um 13 Uhr auf dem Platz vor dem Gemeindegasthaus versammeln. Héjjas schritt die Reihen mit seinen Offizieren ab und erklärte, dass er – da sich die Angreifer nicht zu erkennen gegeben hatten – keine Milde walten lassen könne. Es würde nun daher jeder zehnte Mann standrechtlich erschossen werden. Das Urteil sei sofort vollstreckbar!

Die versammelten Kaisersteinbrucher waren wie erstarrt, bis sich der Steinmetzmeister Ferdinand Amelin (1868-1947) ein Herz fasste und um Erlaubnis bat, einige Worte sagen zu dürfen. Er stellte klar, dass es nicht die Anwesenden, sondern die von Héjjas Männern brutal vertriebenen Heimkehrer gewesen seien, die sich mittlerweile längst nach Sommerein abgesetzt hätten. Héjjas solle seine Anordnung nochmals überdenken, um sich nicht mit dem Blut Unschuldiger zu besudeln!

Tatsächlich begab sich der Rädelsführer zur Beratung ins Gasthaus zurück und erklärte nach einer bangen Viertelstunde die Vollziehung einstweilen für ausgesetzt. Alle atmeten erleichtert auf, mussten jedoch versprechen, seine Anordnungen strengstens zu befolgen. Dann durfte die Bevölkerung unbehelligt in die Häuser zurückkehren. Die Freischärler jedoch sannen auf Rache und planten in der folgenden Nacht auch Sommerein einzunehmen. Gesagt, getan! Schon waren sie im Schutz der Dunkelheit bis zu den ersten Häusern in der Sommereiner Feldgasse vorgedrungen, als ihnen plötzlich Maschinengewehrsalven entgegenschlugen. Die zurückgelassenen österreichischen Horchposten hatten ganze Arbeit geleistet und den Mannersdorfer Gendarmerieposten rechtzeitig um Verstärkung gebeten. Die Mannersdorfer Gendarmen kamen daher den dreißig Kollegen und den Sommereiner Ordnungskräften schwer bewaffnet zu Hilfe – mit Erfolg! Über Kaisersteinbruch erhellte indes ein roter Feuerschein die Nacht, da die flüchtende „Lumpengarde“ einige Häuser in Brand gesteckt hatte.

Bereits am darauffolgenden Tag, dem 2. November 1921, meldete das „Neue Acht Uhr Blatt“ – ohne allerdings die Vorgeschichte zu kennen – dass Sommereiner und Wilfleinsdorfer „Zivilbanden“ die Freischärler entgegen dem von der italienischen Entente-Mission geschlossenen Waffenstillstand angegriffen hätten. In der Region um Bruck/Leitha und Ebenfurth kam es daher zu weiteren Gefechten zwischen den ungarischen Freischärlern und lokalen österreichischen Wachpatrouillen. Daraufhin sandte am 3. November 1921 Ivan Héjjas einen Boten nach Bruck an der Leitha, der die Drohung überbrachte, dass alle Ortschaften in der Umgebung in Brand gesetzt würden, wenn die Gendarmerie nochmals eingreifen sollte.

 

Doch dazu kam es nicht mehr, denn noch am selben Tag rafften die Freischärler überraschend ihre Ausrüstung auf Wagen zusammen und machten sich Richtung Neusiedl am See aus dem Staub. Denn die Kaisersteinbrucher Bevölkerung hatte all ihr Geld zusammengelegt und sich von der Belagerung der Freischärler freigekauft! Es dauerte jedoch noch etliche Monate, bis österreichische Gendarmen endlich durch die Intervention Italiens (Venediger Protokolle) das gesamte Grenzland unter ihre Kontrolle bringen konnten. Für die Bevölkerung war die Gefahr der Freischärlerangriffe nun endlich gebannt!

Foto 1: Die „Lumpengarde“ („Rongyos Garda“), die Kaisersteinbruch überfallen hatte (Archiv Ava Pelnöcker)

Foto 2: Das Waldgasthaus „Zur Hinterbrühl“, dicht an der österreichisch-ungarischen Grenze gegen Sommerein (Archiv Ava Pelnöcker)

Foto 3: Bürgermeister Josef Kögl aus Sommerein unterstützte den Widerstand gegen die Freischärler (Archiv Ava Pelnöcker)

Foto 4: Im Kaisersteinbrucher Jägerhaus hatten sich die Freischärler einquartiert (Archiv Ava Pelnöcker)

Foto 5: Gemeinderat Martin Tatzber kommandierte die Sommereiner Patrouillen (Archiv Ava Pelnöcker)

Foto 6: Das Kaisersteinbrucher Gemeindegasthaus war einer der damaligen Schauplätze (Archiv Ava Pelnöcker)