Online-Gschichtl Nr. 71

Mathias Niessl (1893-1949) - Von Winden nach Wasenbruck

Vor einigen Wochen konnte Michael Schiebinger über das Leben von Bürgermeister Josef Haidn berichten, der das „Rote Mannersdorf“ der Zwischenkriegszeit entscheidend mitgeprägt hat. Auch die Wasenbrucker Arbeiterschaft hatte damals eine bedeutende Persönlichkeit – Mathias Niessl. Über dessen Wirken und seine spannenden biografischen Spuren wird nun Niessls Enkelsohn Johann Amsis in zwei Teilen berichten.

 

Als es im Oktober zur Zeitumstellung kam und es plötzlich eine Stunde früher finster wurde, musste ich unwillkürlich an meine Kindheit um 1960 denken. Damals gab es keinen Fernseher und keinen Computer, der irgendwo Licht in die Dunkelheit brachte. Es brannte irgendwo eine schwache Glühlampe, der Kohleofen knisterte und die Ofenröhre glühte. Das Radio hatte einen einzigen Sender und Schlafengehen wollte man auch nicht zu früh, so begann man Geschichten von früher zu erzählen.

Es wurde damals auch von den Großeltern mütterlicherseits berichtet, von Winden am See, wo sie herkamen, ist einiges in Erinnerung geblieben. Manches Detail schlummerte verborgen in einer Gehirnwindung und kam nun nach diversen Gesprächen mit meinen Verwandten wieder zum Vorschein. Meinem Cousin Karl Muzatko muss ich da hervorheben, er hat mir einen Großteil der nachfolgenden Lebensgeschichte unseres Großvaters erzählt, die aus einem Hollywoodfilm stammen könnte. So erfuhr ich, wie seine Familie nach Wasenbruck kam und wie oft sein Leben an einem seidenen Faden hing – doch der Reihe nach.

Mathias (Mátyás) Niessl kam am 18. Oktober 1893 in Winden am See in einem Bauernhaus zur Welt und wuchs auch dort auf. Seine Mutter Maria war eine geborene Ehart, in der Familie wurde aber immer von der Niessl-Großmuada gesprochen. Mathias Vater Josef Niessl stammte aus Frauenkirchen und war der Cousin vom Groß- oder Urgroßvater des ehemaligen Landeshauptmannes des Burgenlandes, Hans Niessl. Meine Oma, Magdalena Bierbaum, wurde am 28. März 1893 in Winden geboren. Mit den Jahren haben sich Magdalena und Mathias lieben gelernt und 1913 kam Tochter Elisabeth zur Welt. Heiraten durften die Großeltern nicht, da er bei der Königlich Ungarischen Landwehr (ung. „Magyar Királyi Honvédség“, kurz „Honvéd“) eingerückt war und dort ein Eheverbot galt.

Mit dem Beginn des Ersten Weltkrieges 1914 wurde Mathias mit seiner Einheit nach Galizien verlegt, in einem Viehtransportwaggon. 1915 bestand plötzlich die Möglichkeit, gegen den Ankauf von Kriegsanleihen, unsere Oma Magdalena zu heiraten, was am 30. Oktober des Jahres auch geschah. Noch 1915 wurde Mathias nach Südtirol in die Dolomiten verlegt. Dort bekam er – paradoxerweise zu seinem Glück – eine schwere Lungenentzündung und wurde ins Lazarett nach Meran gebracht. Als er wieder gesund war und er zu seiner Kompanie zurückkehren wollte, hatten die Italiener den ganzen Berg mit den Stellungen seiner Kompanie weggesprengt und es gab keine Überlebenden. Das war der erste seidene Faden, denn die Berge Südtirols waren hart umkämpft, Italiener und Österreicher rangen erbittert um jeden Felsengipfel. Ein Heimaturlaub von der Front sorgte wohl dafür, dass 1916 Mathias und Magdalena Tochter Josepha geboren wurde. Im selben Jahr bekam Oma Magdalena noch eine jüngere Schwester und da ihre Mutter schon älter war und Probleme mit dem Stillen hatte, musste Magdalena aushelfen. So wurden Nichte Josepha und ihre gleichalte Tante Johanna gemeinsam gestillt und aufgezogen!

1918 ist Opa aus dem Ersten Weltkrieg zu seiner Familie zurückgekehrt. Das spätere Burgenland gehörte ja damals noch zu Westungarn und die Grenze zu Österreich verlief am Leithagebirge und bei Kaisersteinbruch. 1918 oder 1919 wurde Opa im Alter von 26 Jahren zur Grenzwache abkommandiert. Viele Schwarzhändler gab es damals, die Lebensmittel und andere Dinge über die Grenze schmuggelten. Die meisten Grenzwächter ließen sich bestechen, außer Opa Mathias, dies hat natürlich einigen nicht gepasst. Während der kurzlebigen Sozialistischen Ungarischen Räterepublik wurde Anfang April 1919 auch in Winden ein Arbeiter-, Soldaten- und Bauernrat gewählt. Dem Direktorium gehörten August Ernst, Mathias Niessl und Georg Seubart an. Die führenden Personen flohen nach dem Ende der Räterepublik im August 1919 nach Österreich und kehrten erst im November 1921 zurück. Im ereignisreichen Jahr 1919 wurde Mathias und Magdalena Tochter Anna geboren.

Nach im selben Jahr drückte der damalige Windener Bürgermeister Großvater Niessl einen Brief in die Hand. Mathias müsse Geld aus Budapest holen und zum Bürgermeister auf das Gemeindeamt bringen. Das ist den Großeltern seltsam vorgekommen, aber wenn der Bürgermeister das anschafft, war es – obrigkeitshörig wie man war – zu tun. Oma Magdalena ließ die Sache gar keine Ruhe, ihr Misstrauen war geweckt und sie öffnete den Brief über heißem Dunst. Dann ist den Großeltern die sprichwörtliche „Lade heruntergefallen“, in dem Brief stand nämlich: „erschießen sie den Überbringer“ – das war dann der zweite seidene Faden im Leben des Großvaters.

Es war klar, dass die Familie aus dem unsicheren Winden wegmusste. Der Leiterwagen wurde mit ihren Habseligkeiten und den Kindern beladen und sie fuhren über das Gebirge. Bei der Grenzstation bei Kaisersteinbruch haben sie, wohl mit der Angst im Nacken, eine Kurve zu schnell genommen und der Pferdewagen hat umgeschmissen. Es ist aber gottseidank nichts passiert und sie konnten den Wagen wiederaufrichten. An diesem oder einem der nächsten Tage kam die Familie Niessl in Wasenbruck an.

 

Fortsetzung folgt …


Foto 1: Mathias Niessl in der Uniform der Ungarischen Räterepublik, um 1919 (Archiv Johann Amsis)

Foto 2: Ortsansicht von Winden, Mathias Niessls Geburtsort (ÖNB/AKON, AKON_AK070_378_1933)

Foto 3: Winden (ung. Sásony) im Jahr 1877, Spezialkarte der österreichisch-ungarischen Monarchie (New York Public Library)

Foto 4: Mathias Niessls Eltern Josef und Maria (Archiv Johann Amsis)

Foto 5: Mathias Niessls Elternhaus in Winden (Archiv Johann Amsis)