Online-Gschichtl Nr. 103

Die Findelkinder des Wiener Gebärhauses in der Herrschaft Mannersdorf-Scharfeneck - Teil 1

Über die Ausübung der Blutgerichtsbarkeit in der Herrschaft Scharfeneck-Mannersdorf konnten wir bereits von Michael Schiebinger erfahren. Die Vollstreckung eines Todesurteiles im 18. Jahrhundert dient als Anlass für den zweiteiligen Beitrag, in dem sich Ava Pelnöcker der weithin unbekannten Tragödie rund um das Schicksal der Kinder aus dem Wiener Findelhaus widmet, von denen viele in Mannersdorf ihre letzte Ruhestätte fanden. Steckte dahinter ein staatliches Werk der Nächstenliebe oder doch eine „k.k. privilegierte Mordanstalt“?

 

Am 12. März 1727 wurde in Mannersdorf die aus dem „Schwabenland gebürtige“ Anna Maria Örtlin „vom Leben zum Tod hingerichtet, das Haubt aufs Rad gesteckt, der leib im Friedhoff begraben, weeg das (weil) sie ihr eigenes kind gleich nach der Geburt umbgebracht“ (Vgl. Matriken Pfarre Mannersdorf und Christian Szivatz Hornsteiner Heft Nr. 59). Anna Maria bildete keinen Einzelfall, trotz drakonischer Strafdrohung zählte der Kindsmord zu den häufigsten Tatbeständen jener Zeit. Ungezählt bleiben die Scharen von Frauen, die im Laufe der Jahrhunderte aufgrund tiefster Armut oder wegen des drohenden Stigmas gesellschaftlicher Ausgrenzung darin die letzte Konsequenz sahen.

Erst die Erfindung der Pille vor 60 Jahren und die von Frauenrechtlerinnen hart erkämpfte, 1974 legalisierte Fristenlösung eröffnet den Geschlechtsgenossinnen eine selbstbestimmte Entscheidung über ihre Mutterschaft. Um die Abtreibung oder Tötung Neugeborener zu verhindern, entwickelten schon im Mittelalter vor allem kirchliche Institutionen Kinderklappen, in denen man den unerwünschten Nachwuchs ablegen konnte, wie bei den historischen Waisenhäusern in Florenz oder Rom. In Frankreich war es der heilige Vincent von Paul, der in Mâcon einen „tour d´abandon“ (Kinderklappe) am Hospital der von ihm gegründeten Charité anbringen ließ. Nach diesem Vorbild werden seit rund 20 Jahren wieder in vielen europäischen Städten Babynestchen geschaffen, die die abgelegten Neugeborenen vor Unterkühlung schützen sollen. Auch in Österreichs Spitälern wird die anonyme Geburt seit 2000 wieder praktiziert.

Wie so oft, wiederholt sich auch hier die Geschichte, doch gehen wir 235 Jahre zurück! Es war Kaiser Joseph II. – der große Reformer – der angesichts einer steigenden Zahl von Abtreibungen, Kindesaussetzungen und Tötungen eine Lösung zur Erhaltung des Lebens seiner schutzlosesten Untertanen anstrebte. Das Diktum einer barbarischen Bestrafung der Kindsmörderin, das noch die Gesetzgebung Maria Theresias – selbst Mutter von 16 Kindern – normiert hatte, wich im Geist der Aufklärung der Überzeugung, diese Taten durch Bekämpfung ihrer Ursachen verhindern zu müssen.

Im Zuge der Reorganisation des Wiener Gesundheitswesens wurde daher 1784 gemeinsam mit dem Allgemeinen Krankenhaus auch das Gebär- und Findelhaus in der Alserstraße eröffnet, das unverheirateten Frauen die Geheimhaltung ihrer Mutterschaft und Vermittlung der unerwünschten Kinder auf Pflegestellen zusicherte.

Die kostenlose Aufnahme in der Gratisklasse mussten unterprivilegierte, ledige Mutter als Anschauungsobjekt im geburtshilflichen Unterricht oder als Amme ableisten. Für vermögende Frauen gab es verschieden hohe Taxen für die Unterbringung im Gebärhaus, wo sie ihr Kind völlig anonym entbinden und anschließend dem Staat zur Obsorge übergeben konnten.

Obwohl die Erzdiözese die Ortspfarrer bereits 1796 dazu anhielt, Pflegemütter für die Findelkinder in den Gemeinden zu suchen, begegnet uns erst am 8. August 1813 in Anton Lackner der erste im Mannersdorfer Sterberegister verzeichnete Findling, der im Alter von acht Tagen auf dem Dorffriedhof beerdigt wurde. Die Ursache, warum in den folgenden Jahren so viele Findelkinder in die Herrschaft Scharfeneck-Mannersdorf vermittelt wurden, mag wohl mit der Erhöhung des Pflegegeldes in jenem Jahr zusammenhängen.

 

Offenbar wurde es für einkommensschwache Familien zunehmend attraktiv, ja entwickelte sich sogar zum unverzichtbaren Nebenerwerb, ein oder mehrere Findelkinder aufzunehmen. Obwohl die Pflegemütter ein Wohlstandszeugnis beizubringen hatten, auf dem Lande leben und über ein Milch gebendes Tier verfügen sollten, handelte es sich zumeist um sogenannte Kleinhäuslerinnen, deren Männer als Taglöhner, Fabrikarbeiter oder Handwerker ihr Auskommen finden mussten. Auch einkommenslose Witwen sahen kaum andere Möglichkeiten sich und ihre eigenen Kinder durchzubringen. Zudem bot Vater Staat den Pflegemüttern weitere Anreize, in dem er die weggelegten Säuglinge mit einem Wäschepaket und kostenloser medizinischer Versorgung ausstattete. Auch belohnte er die Pflegemütter mit einer Prämie, wenn die Findelkinder ihren ersten Geburtstag erlebten. Auf diese Weise wurde der Unterhaltsempfänger selbst zum Familienerhalter! 


Foto 1: Sterbebucheintrag zum Tod der Anna Maria Örtlin, 1727 (Matricula, Pfarre Mannersdorf, Sterbebuch 1711-31)

Foto 2: Das bittere Ende auf der Richtstätte, Darstellung am Fresko des Maria-Theresien-Saales in Schloss Mannersdorf (Archiv Hans Amelin)

Foto 3: Kaiser Joseph II. als idealisierte Herrscherfigur der Aufklärung, Johann Hieronymus Löschenkohl, 1782 (Wien Museum Online Sammlung, INV 179473, Johann Hieronymus Löschenkohl (Verlag), CC0, https://sammlung.wienmuseum.at/objekt/347409/)

Foto 4: Das einstige Wiener Findel- und Gebärhaus in der Alserstraße, August Stauda, um 1910

(Wien Museum Online Sammlung, INV 41911, CC0, https://sammlung.wienmuseum.at/objekt/110647/)

Foto 5: Anton Lackner, ein 1813 in Mannersdorf verstorbenes Findelkind (Matricula, Pfarre Mannersdorf, Sterbebuch 1788-1822)